Unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) kann ein Problem werden. Sie fragen, wieso?
Über betriebliches Eingliederungsmanagement (kurz: bEM) gibt es viele Fehlvorstellungen. Kein Wunder, denn das bEM ist nur schwer greifbar – und das liegt daran, dass der Gesetzgeber hierfür nur einen lockeren Rahmen vorgegeben hat. Das Gesetz gibt nur wenig vor – und somit gibt es einen großen Interpretationsspielraum, den Arbeitgeber und betroffener Arbeitnehmer selbst ausfüllen können.
Typische Fragen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement sind in diesem Zusammenhang:
- Was macht ein betriebliches Eingliederungsmanagement aus?
- Welche Zielrichtung verfolgt das betriebliche Eingliederungsmanagement?
- Welche Voraussetzung hat es?
- Wie wird das betriebliche Eingliederungsmanagement durchgeführt?
- Und was passiert eigentlich, wenn es nicht durchgeführt wird?
Was viele nicht wissen: Wird ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) unterlassen, folgt daraus erst einmal nichts. Aber dieses Unterlassen kann sich in einer bestimmten Konstellation zu einem eklatanten Nachteil entwickeln. In diesem Blog-Artikel beantworte ich die wichtigsten Fragen rund um das bEM. In den Info-Boxen finden Sie weitere nützliche Informationen.
1.Was ist ein betriebliches Eingliederungsmanagement?
Beim betrieblichen Eingliederungsmanagement handelt sich um ein besonderes Klärungsverfahren, welches die Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers zum Gegenstand hat und dessen oberstes Ziel die Erhaltung des Arbeitsplatzes ist. Das Bundesarbeitsgericht verwendet den missverständlichen Ausdruck „Suchprozess“, siehe BAG, Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21 RN 28. „Prozess“ hört sich für den juristischen Laien nach einem Gerichtsverfahren an. Genau das ist ein bEM aber nicht (und so meint es das BAG auch nicht).
Ein bEM findet rein intern zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer statt. In den meisten Fällen werden weitere Beteiligte (z.B. Schwerbehindertenvertreter; Betriebsrat; Integrationsamt; Vertrauensperson des Arbeitnehmers; Betriebsarzt) hinzugezogen. Verantwortlich für dessen Durchführung ist der Arbeitgeber.
Wie die Parteien den vom Gesetzgeber in § 167 Abs. 2 SGB IX geregelten Rahmen des betrieblichen Eingliederungsmanagements ausfüllen, ist ihnen überlassen. Das bEM ist verlaufs- und ergebnisoffen. Und das ist auch gut so, denn auf diese Weise können die Parteien individuelle Lösungen finden, um den Arbeitsplatz zu erhalten.
Bei der Durchführung eines beM können mindestens drei Phasen unterschieden werden:
- Die Einladung durch den Arbeitgeber,
- die gemeinsame Analyse und
- die einvernehmliche Lösungsfindung.
Das ist nur eine sehr grobe Einteilung, aber sie erleichtert die Orientierung. Zeitlich gesehen werden in vielen Fällen Analyse- und Lösungsfindungsphase zusammenfallen. Im Einzelnen siehe hierzu unten 3. Was folgt daraus, wenn die Voraussetzung für ein bEM vorliegt?
Charakteristisch für das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) sind insbesondere zwei Dinge, die für alle drei Phasen gelten und sich zu widersprechen scheinen:
- Einerseits ist der Arbeitgeber verpflichtet, beim Vorliegen der Voraussetzung (siehe dazu unten 2. Was ist die Voraussetzung für die Verpflichtung zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements?) ein bEM durchzuführen, bis es fehlerfrei abgeschlossen ist.
- Andererseits ist das bEM während seines gesamten Verlaufs freiwillig, d.h. sowohl der Arbeitgeber als auch der betroffene Arbeitnehmer können es von vornherein verweigern oder in jeder Phase abbrechen. Das bedeutet auch, dass der Arbeitgeber ohne Zustimmung des Arbeitnehmers das bEM nicht (weiter) durchführen kann. Der Arbeitgeber ist also auf die freiwillige Beteiligung des Arbeitnehmers angewiesen.
Wie passt das zusammen?
Der Gesetzgeber wollte nicht, dass der Arbeitnehmer einen einklagbaren Anspruch auf Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements erhält; allerdings muss diejenige Partei, die für die Nichtdurchführung des bEM verantwortlich ist, bestimmte Konsequenzen tragen. Man kann es auch so ausdrücken: Wer für das Nichtdurchführen oder Scheitern eines bEM verantwortlich ist, hat eventuell einen Preis dafür zu zahlen.
Das gilt insbesondere für den Arbeitgeber: Wenn der Arbeitgeber seiner Verpflichtung nicht nachkommt, hat er im Fall einer personenbedingten Kündigung einen prozessualen Nachteil. Gibt es keinen Gerichtsprozess, gibt es insoweit auch keinen Nachteil.
- Info-Box 1:
Führt ein unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement automatisch zur Unwirksamkeit einer Kündigung?
Das ist ein weitverbreiteter Irrtum, gerade bei Arbeitnehmern. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für eine arbeitgeberseitige Kündigungserklärung. Unterbleibt es, kann die Kündigung trotzdem wirksam sein und das Arbeitsverhältnis beenden.
Allerdings dürfte es sich regelmäßig um einen taktischen Fehler des Arbeitgebers handeln, wenn er ein bEM-Verfahren beim Vorliegen seiner Voraussetzungen nicht anschiebt. Und entsprechend begeht der Arbeitnehmer einen taktischen Fehler, wenn er einer ordnungsgemäßen bEM-Einladung nicht Folge leistet, siehe dazu 6. „Welche Folgen hat ein unterlassenes betriebliches Eingliederungsmanagement?“.
Es gibt für ein betriebliches Eingliederungsmanagements nur eine einzige Voraussetzung: Wenn ein Arbeitnehmer länger als sechs Wochen innerhalb eines Jahres arbeitsunfähig erkrankt ist, ist der Arbeitgeber nach § 167 Abs. 2 SGB IX zu seiner Durchführung verpflichtet. Es spielt dabei keine Rolle, ob
- der betroffene Arbeitnehmer schwerbehindert ist,
- wie lange der Mitarbeiter beschäftigt ist,
- überhaupt Kündigungsschutz in dem Betrieb besteht,
- ein Betriebsrat existiert, oder
- die Ausfallzeiten von mehr als sechs Wochen auf einer lang andauernden Erkrankung oder wiederholten Kurzerkrankungen beruhen.
2. Was ist die Voraussetzung für die Verpflichtung zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagement?
Der betroffene Arbeitnehmer muss auch nicht zwingend arbeitsunfähig erkrankt sein, um zu dem bEM-Gespräch eingeladen zu werden. Maßgeblich allein ist die Feststellung des Arbeitgebers, dass der Arbeitnehmer in den vergangenen zwölf Monaten länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank gewesen ist – und natürlich kann es sein, dass der betroffene Arbeitnehmer längst wieder arbeitet. Ist der Schwellenwert (sechs Wochen plus einen Tag AU) erreicht, entsteht die gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers zur Durchführung des bEM. Er muss oder darf also nicht ein volles Jahr abwarten. Das bedeutet auch, dass der Arbeitgeber ggf. vor Ablauf eines Jahres das bEM wiederholen muss.
3. Was folgt daraus, wenn die Voraussetzung für ein betriebliches Eingliederungsmanagement vorliegt?
Der Arbeitgeber ist beim Vorliegen der Voraussetzung verpflichtet, den Arbeitnehmer zu einem bEM-Gespräch einzuladen (Einladungsphase).
Bereits beim Verfassen der Einladung können viele Fehler gemacht werden. So reicht es nicht aus, wenn der Arbeitgeber schreibt: „Ich lade Sie hiermit zu einem bEM-Gespräch ein.“
Würde der Arbeitnehmer einer solchen Einladung keine Folge leisten, hätte das keine Nachteile für ihn. Allerdings würden in diesem Fall den Arbeitgeber prozessuale Nachteile in einem nachfolgenden Kündigungsschutzprozess treffen, es sei denn, ihm gelänge der Nachweis, dass das beM objektiv nutzlos gewesen wäre. Der vorsichtige Arbeitgeber wird sich daher bei den Formulierungen seines Einladungsschreibens viel Mühe geben (siehe Info-Box 4) und sich ggf. juristisch beraten lassen. Zu den oben angedeuteten Nachteilen im Einzelnen siehe unten 4. Welche Folgen hat ein unterlassenes beM?
- Info-Box 2:
Welchen Mindestinhalt muss das Einladungsschreiben eines Arbeitgebers haben?
Will der Arbeitgeber ein ordnungsgemäßes Einladungsschreiben verfassen, muss er den Arbeitnehmer über die Ziele des betrieblichen Eingliederungsmanagements informieren sowie auf die Art und den Umfang der erhobenen und verwendeten Daten hinweisen, vgl. BAG, Urteil vom 16.07.2015 – 2 AZR 15/2015 – RN 33. Das ergibt sich auch unmittelbar aus dem Gesetz, § 167 Abs. 2 SGB IX.
Im Idealfall soll im Verlauf des betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) festgestellt werden, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Krankheitstagen gekommen ist (Analysephase) – und ob im Rahmen einer Gesundheitsprävention Möglichkeiten bestehen, eine bestehende Arbeitsunfähigkeit zu überwinden bzw. bei häufigen Erkrankungen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen und eine möglichst dauerhafte Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zu fördern (Lösungsfindungsphase).
Dabei geht es vor allem darum,
- ob der vorhandene Arbeitsplatz leidensgerecht angepasst werden kann,
- wie die notwendigen Veränderungen in Form von Abschirmungs- oder Schutzmaßnahmen aussehen können, oder
- ob der Arbeitnehmer auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit eingesetzt werden kann („Schonarbeitsplatz“), oder
- ob gesetzlich vorhergesehene begleitende Hilfen oder Leistungen der Rehabilitationsträger herangezogen werden können. Dazu gehören auch „Maßnahmen zur Anleitung der Entwicklung von Selbstheilungskräften“ (BAG, Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21 Rn. 45), wie es im Juristendeutsch heißt. Das kann auch auf eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten gemünzt sein (z.B. morgens ein Glas Wasser mit frischgepresster Zitrone zur Stärkung der Immunkräfte statt Energydrink). Der Fantasie sind in diesem gesetzlich angeordneten Brainstorming keine Grenzen gesetzt – Hauptsache, es hilft. Da der Arbeitgeber in den seltensten Fällen selbst Arzt sein dürfte, dürfte die Einbindung des – sofern vorhanden – Betriebsarztes grundsätzlich ein wichtiger Faktor sein.
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4. Wann ist ein betriebliches Eingliederungsmanagement abgeschlossen?
Auch das ist eine mitunter heikle Frage. Das Gesetz schweigt dazu; das Bundesarbeitsgericht gibt dazu in seinem Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21 RN 27 ff. nur einige unvollständige Hinweise:
Von einem Abschluss des betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) kann in jedem Fall ausgegangen werden, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer übereinstimmend festgestellt haben, dass es erledigt ist oder nicht weiter fortgesetzt werden soll. Das könnte in einem gemeinsamen bEM-Protokoll schriftlich festgehalten werden.
Ein Abschluss liegt auch vor, wenn der Arbeitnehmer nachweislich seine weitere Zustimmung verweigert.
Grundsätzlich kann der Arbeitgeber das laufende Verfahren nicht einfach einseitig für beendet erklären, wenn er meint, alles sei getan, was getan werden kann. Der Arbeitgeber hat zwar die Initiative in seinen Händen, aber er muss Rücksicht auf den Arbeitnehmer nehmen. Er muss erforschen, ob der Arbeitnehmer das Verfahren auch für beendet ansieht. Kooperation ist an dieser Stelle Trumpf. Der vorsichtige Arbeitgeber wird daher dem Arbeitnehmer und den anderen beteiligten Stellen eine Frist zur Stellungnahme setzen, wenn er z.B. selbst keine (weiteren) Ansätze für geeignete Präventionsmaßnahmen mehr sieht, und vorsorglich bei Verstreichen der Frist die Beendigung des Verfahrens erklären. Kommt innerhalb der gesetzten Frist keine Reaktion, wird man dem Arbeitgeber keinen Vorwurf machen können.
Das Bundesarbeitsgericht hat jüngst entschieden, dass ein betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) erneut durchgeführt werden muss, wenn nach Abschluss eines bEM-Verfahrens innerhalb eines Jahres wieder krankheitsbedingte Fehlzeiten von mehr als sechs Wochen entstehen. Das gilt auch, wenn seit dem zuvor durchgeführten bEM weniger als ein Jahr vergangen ist, vgl. BAG, Urteil vom 18.11.2021 – 2 AZR 138/21 – RN 18.
Das Bundesarbeitsgericht hat damit der Vorstellung einen Riegel vorgeschoben, es gäbe bei einem bEM ein „Mindesthaltbarkeitsdatum“ von einem Jahr, BAG aaO., RN 25. Das Gesetz nennt nach Auffassung des BAG nur einen maximalen Bezugszeitraum.
In dem neuen bEM ist auf Initiative des Arbeitgebers zu prüfen, ob ein neuer Präventionsansatz verfolgt werden muss, z. B., weil sich der Krankheitsgrund und/oder die betrieblichen Umstände geändert haben.
Übersetzt heißt das: Sobald der Arbeitgeber nach Abschluss eines bEM-Verfahrens feststellt, dass der Arbeitnehmer wieder mehr als sechs Wochen krankheitsbedingte Ausfallzeiten hat, ist er gehalten, ein erneutes betriebliches Eingliederungsmanagement (bEM) durchzuführen. Theoretisch kann das sechs Wochen und einen Tag später sein.
Diese Verpflichtung besteht auch dann, wenn der Arbeitnehmer das vorherige betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) ausdrücklich abgelehnt hat. Denn es muss nicht sein, dass der Arbeitnehmer seine ablehnende Haltung aufrechterhält. Der Arbeitgeber muss erforschen, ob der Arbeitnehmer zu einem neuen beM bereit ist. Der vorsichtige Arbeitgeber wird also dem Arbeitnehmer zumindest eine E-Mail schicken und entsprechend nachfragen. Ansonsten verschafft er dem Arbeitnehmer einen echten Joker im Kündigungsschutzprozess.
1.
Arbeitnehmer und Arbeitgeber verpassen bei einem Unterlassen des betrieblichen Eingliederungsmanagements – unabhängig davon, wer dafür die Verantwortung trägt – die Ziele, die der Gesetzgeber unmittelbar bzw. mittelbar mit diesem Verfahren verfolgt: Es kann die Chancen, dass der Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz erhalten kann, erhöhen – und damit kann dem Arbeitgeber eine Fachkraft mit entsprechendem Know-how erhalten bleiben. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels liegt die Durchführung des bEM im unternehmerischen Interesse, zumal das Suchen von neuen Arbeitskräften häufig Zeit und Geld kostet.
2.
Wenn der Arbeitgeber das bEM ordnungsgemäß angeboten hat, und der Arbeitnehmer dieses ablehnt, ist die Unterlassung des bEM für beide Seiten „kündigungsneutral“, vgl. BAG, Urteil vom 13.05.2015 – 2 AZR 565/14 RN 26. Aus Arbeitgebersicht ist das der beste Fall: Ihm bleibt die Durchführung des möglicherweise aufwendigen bEM erspart, und er hat dadurch im Kündigungsfall keine Nachteile.
3.
Hat der Arbeitgeber hingegen das betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) gar nicht oder nicht ordnungsgemäß angeboten, liegt der klassische Fall des Unterlassens vor. Daraus folgt zunächst einmal nichts, weil der Arbeitnehmer keinen durchsetzbaren Anspruch auf Durchführung eines bEM hat. Erst in einem sich ggf. anschließenden Kündigungsschutzprozess müsste der Arbeitgeber einen Nachteil in Kauf nehmen. Dieser Nachteil hat es aber in sich – und bedarf daher der näheren Ausführung:
Die erhöhte Darlegungslast des Arbeitgebers im Kündigungsschutzprozess
Wenn der Arbeitgeber aus krankheitsbedingten Gründen das Arbeitsverhältnis ordentlich kündigt (= sog. personenbedingte Kündigung), und der Arbeitnehmer fristgerecht dagegen Kündigungsschutzklage erhebt, erhöht sich im Kündigungsschutzprozess in der dritten Stufe die Darlegungslast des Arbeitgebers, ob die Kündigung verhältnismäßig ist und nicht durch denkbare „mildere Mittel“ hätte vermieden werden können (siehe dazu auch Info-Box 4). An dieser Stelle wird dem Arbeitgeber das Ziel des bEM, „mildere Mittel“ zu identifizieren, zum Verhängnis. Das muss er jetzt im Prozess nachholen.
- Info-Box 3:
Ist ein betriebliches Eingliederungsmanagement im Verhältnis zur Kündigung selbst ein „milderes Mittel“?
Nein. Das Bundesarbeitsgericht ist insoweit völlig klar in seiner Argumentation: Das beM konkretisiert nur den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Es dient dem Erkennen und Entwickeln von milderen Mitteln, stellt aber selbst kein milderes Mittel dar, vgl. BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 RN 20.
Mit anderen Worten: Durch das unterlassene betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) erhöht der Arbeitgeber aus seiner Sicht seinen Schwierigkeitsgrad im Kündigungsschutzprozess. Das bedeutet, dass dort seine Erfolgsaussichten mitunter rapide sinken bzw. die Erfolgsaussichten des Arbeitnehmers entsprechend steigen.
Damit Sie als Leser das besser einordnen können, beschreibe ich in der nachfolgenden Info-Box 4 das dreistufige Prüfungsschema des Bundesarbeitsgerichts. Die erhöhte Darlegungslast betrifft die dritte Stufe. Wer es schon kennt, kann diese Info-Box natürlich überspringen.
- Info-Box 4:
Kündigungsschutz – Prüfung der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung in drei Stufen:
Nach dem dreistufigen Prüfungsschema des Bundesarbeitsgerichts ist die krankheitsbedingte Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG), wenn
- eine negative Gesundheitsprognose vorliegt (1. Stufe),
- die prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen (2. Stufe) und
- die Interessenabwägung (3. Stufe) ergibt, dass das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses dasjenige des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes überwiegt. Das ist dann der Fall, wenn die erheblichen Beeinträchtigungen (s. Stufe 2) billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen. Innerhalb der Interessenabwägung ist auch zu prüfen, ob die Kündigung überhaupt verhältnismäßig ist. Damit wird die Frage nach den sog. milderen Mitteln aufgeworfen (u.a. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes; Beschäftigung auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz; Änderungskündigung zu ggf. schlechteren Bedingungen wie z.B. Teilzeit). Die Kündigung soll nur „ultima ratio“ sein, also das letzte Mittel, wenn nichts anderes geht.
Je nachdem, ob die Kündigung auf eine Dauererkrankung oder häufige Kurzerkrankungen gestützt wird, verändert sich dieses Prüfungsschema in Nuancen:
So konkretisiert sich bei einer langanhaltenden Arbeitsunfähigkeit die Prüfung der negativen Gesundheitsprognose auf objektive Tatsachen, die – so heißt es im Gerichtsdeutsch – „die Besorgnis einer weiteren, längeren Erkrankung rechtfertigen“ (BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 RN 13). Und bei häufigen Kurzerkrankungen muss in der ersten Stufe geprüft werden, ob objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen (BAG, Urteil vom 22.07.2021 – 2 AZR 125/21 RN 11; BAG, Urteil vom 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 RN 19).
Die erhöhte Darlegungslast bedeutet, dass der Arbeitgeber nicht einfach nur behaupten kann, er kenne keine alternativen Einsatzmöglichkeiten des Gekündigten. Vielmehr muss er die objektive Nutzlosigkeit eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM) darlegen und beweisen, bevor der Arbeitnehmer seinerseits darlegen muss, wo er sich konkret eine anderweitige Beschäftigungsmöglichkeit vorstellt. Die Juristen nennen das eine „abgestufte Darlegungs- und Beweislast“. Wer gerade die Darlegungs- und Beweislast hat, hat im Prozess den „Schwarzen Peter“. Und wir wissen aus dem gleichnamigen Spiel: Wer den Schwarzen Peter hat, wird ihn oft nicht los – und verliert. Im Spiel gibt es nur einen schwarzen Strich auf die Nase, aber im echten Leben kann das den Arbeitgeber tausende Euro kosten.
Es sei an dieser Stelle aus dem Urteil des BAG vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 zitiert, um das Ausmaß der Hürde für den Arbeitgeber zu verdeutlichen:
„Dazu muss er umfassend und konkret vortragen, warum weder der weitere Einsatz des Arbeitnehmers auf dem bisherigen Arbeitsplatz noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen seien und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit habe eingesetzt werden können, warum also ein bEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerliche Krankheitszeiten des Arbeitnehmers spürbar vorzubeugen und so das Arbeitsverhältnis zu erhalten.“ (RN 21)
Was für den einen ein Nachteil ist, ist für den anderen ein Vorteil
Zwar ist der Arbeitgeber nicht verpflichtet, einen neuen Arbeitsplatz zu schaffen, der vorher nicht existierte; er ist auch nicht zur Freikündigung eines besetzten Arbeitsplatzes verpflichtet, wenn der dort Beschäftigte Kündigungsschutz genießt und nicht einfach umgesetzt werden kann. Und dennoch kostet ihn die erhöhte Darlegungslast häufig den Sieg: Er muss – wie das obige Zitat aus der BAG-Entscheidung zeigt – das unterlassene betriebliche Eingliederungsmanagement (bEM) fiktiv in seinem Vortrag durchspielen – und das Resultat muss negativ sein. Nur dann ist das unterlassene bEM, wie das BAG sich ausdrückt, „kündigungsneutral“. Reicht dem Gericht der Vortrag nicht, und das wird er nur in den seltensten Fällen, dann hat er „vorschnell gekündigt“ (BAG, Urteil vom 20.11.2014 – 2 AZR 664/13 RN. 22) und damit verloren.
Sie haben Fragen zum betrieblichen Eingliederungsmanagement? Ich bin gerne für Sie da.