Ordentliche fristgerechte Kündigung wegen häufiger Erkrankungen
(Bundesarbeitsgericht vom 22.07.2021 – 2 AZR 125/21)
In diesem Blog-Artikel geht es um eine ordentliche fristgerechte Kündigung einer seit 1999 im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmerin (zuletzt als Supply Operations Administratorin) wegen häufiger Erkrankungen (ordentliche krankheitsbedingte Kündigung). Die Arbeitgeberin stützte ihre Kündigung vom 17.07.2018 auf folgende Ausfallzeiten: 2012 – 52 Arbeitstage, 2013 – 33 Arbeitstage, 2014 – 47 Arbeitstage, 2015 und 2016: durchgehend, 2017 – 112 Arbeitstage und 2018: durchgehend bis zum 17.07.2018. Nicht wenige Arbeitgeber werden angesichts dieser massiven Fehlzeiten denken: Das muss doch nun aber wirklich für eine Kündigung gereicht haben.
Lesen Sie hier, wieso der Arbeitgeber in dem oben geschilderten Fall doch noch den Kündigungsschutzprozess verloren hat.
Die negative Gesundheitsprognose als erste Stufe im Prüfungsschema der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung
Eigentlich ging es in dem Urteil für den Arbeitgeber und seiner ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung richtig gut los. Das Bundesarbeitsgericht (kurz: BAG) schloss sich der Vorinstanz (Landesarbeitsgericht Hamburg, Urteil vom 13.11.2020 – 2 Sa 15/20) an, dass bei der Klägerin eine negative Gesundheitsprognose vorlag.
Das LAG hatte in seinem Urteil festgestellt, dass die bisherigen Fehlzeiten eine Indizwirkung entfalten, und die Klägerin sei der sich daraus ergebenen negativen Prognose nicht hinreichend genug entgegengetreten (Landesarbeitsgericht Hamburg, aaO., RN 116). Die Klägerin litt an verschiedenen Erkrankungen. Ausführungen zur Ausheilung fehlten größtenteils. Damit hatte die Arbeitgeberin die erste Stufe in dem Prüfungsschema des BAG gemeistert.
Wer das Prüfungsschema nicht kennt und wissen will, wie es funktioniert, bzw. wer es noch einmal wiederholen will, kann in der Info-Box 1 nachlesen.
- Info-Box 1:
Kündigungsschutz – Prüfung der sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung in drei Stufen (nach dem BAG):
Nach dem dreistufigen Prüfungsschema des Bundesarbeitsgerichts ist die Kündigung nur dann sozial gerechtfertigt (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG), wenn:
- eine negative Gesundheitsprognose vorliegt (1. Stufe), d.h. es müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen;
- die prognostizierten Fehlzeiten zu einer erheblichen Beeinträchtigung betrieblicher Interessen führen (2. Stufe), wobei es sich um Betriebsablaufstörungen oder auch zu erwartenden Entgeltfortzahlungskosten handeln kann, und
- die Interessenabwägung (3. Stufe) ergibt, dass das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses dasjenige des Arbeitnehmers am Erhalt des Arbeitsplatzes überwiegt. Das ist dann der Fall, wenn die erheblichen Beeinträchtigungen (s. Stufe 2) billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen. Innerhalb der Interessenabwägung ist auch zu prüfen, ob die Kündigung überhaupt verhältnismäßig ist. Damit wird die Frage nach den sog. milderen Mitteln aufgeworfen (u.a. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes; Beschäftigung auf einem leidensgerechten Arbeitsplatz; Änderungskündigung zu ggf. schlechteren Bedingungen wie z.B. Teilzeit). Die Kündigung soll nur „ultima ratio“ sein, also das letzte Mittel, wenn nichts anderes geht.
Kündigungsschutz: Die erhebliche Beeinträchtigung betrieblicher Interessen als zweite Stufe im Prüfschema
Doch schon an der nächsten Stufe im Prüfungsschema zur sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung oder der im Volksmund bezeichneten Kündigung wegen Krankheit ist der Arbeitgeber krachend gescheitert. Es gelang ihm nicht darzulegen, dass er durch die zu erwartenden krankheitsbedingten Fehlzeiten erhebliche Beeinträchtigungen seiner betrieblichen Interessen erleiden wird.
Vielleicht denken Sie jetzt: Moment einmal! Ist dieser Vortrag für eine derartige Prognose nicht angesichts der massiven Fehlzeiten entbehrlich gewesen? Nein, war er nicht. Das Bundesarbeitsgericht hat klargestellt, dass dieser Vortrag nur bei einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit verzichtbar gewesen wäre – und auch nur dann, wenn in den nächsten 24 Monaten nicht mit einer Genesung hätte gerechnet werden können (BAG vom 13.05.2015 – 2 AZR 565/14 RN. 18).
Im vorliegenden Fall ging es aber nicht um eine solche Dauer-Arbeitsunfähigkeit. Der Fall war hier anders: Im Jahr 2017 hatte die Klägerin wieder gearbeitet. Wenn man so will, hatte dieses Jahr 2017 dem Arbeitgeber die Behauptung der lang andauernden Arbeitsunfähigkeit verdorben.
Der maßgebliche Referenzzeitraum für die zweite Stufe einer krankheitsbedingten Kündigung: Drei-Jahres-Rückblick
Das BAG hat in das Urteil auch hineingeschrieben, was die Arbeitgeberin für die Begründung der sozialen Rechtfertigung der krankheitsbedingten Kündigung hätte vortragen müssen, um zu gewinnen. Die Arbeitgeberin hätte ihre Prognose hinsichtlich der erheblichen Beeinträchtigungen ihrer betrieblichen Interessen mit einem Rückblick auf die wirtschaftlichen Belastungen in den letzten drei Jahre begründen können (sog. Referenzzeitraum). Wenn der Arbeitgeber in diesem dreijährigen Referenzzeitraum, der der sogenannten Kündigung wegen Krankheit, erheblich beeinträchtigt gewesen wäre, wäre dieses auch in Zukunft zu erwarten gewesen sein.
- Info-Box 2:
Ab wann beginnt der dreijährige Referenzzeitraum?
Der Referenzzeitraum ist vergangenheitsbezogen. Die drei Jahre beginnen mit dem Tag des Zugangs der Kündigung; existiert ein Betriebsrat, sind die drei Jahre vor Einleitung des Beteiligungsverfahrens (Anhörung) maßgeblich (BAG vom 25.04.2018 – 2 AZR 6/18 RN 23, 28).
Was versteht das Bundesarbeitsgericht unter „erheblich“ im Zuge der Kündigung wegen Krankheit?
Laut BAG wäre die Schwelle zur Erheblichkeit überschritten gewesen, wenn jährlich eine wirtschaftliche Belastung zu erwarten gewesen wäre, die die finanziellen Aufwendungen für eine sechswöchige Entgeltfortzahlung übertrifft (also bei mindestens 31 Tagen Entgeltfortzahlung/Jahr bei einer 5-Tage-Woche). Dazu muss man wissen, dass von den Gerichten eine Entgeltfortzahlung bis zu sechs Wochen als unauffällig angesehen wird.
Es spielt dabei keine Rolle, wie die Fehlzeiten der anderen Arbeitnehmer sind. Ein solcher Vergleich (z.B. alle anderen haben 0 Fehltage, aber der betroffene Arbeitnehmer 30 Fehltage, was auf den Laien mehr als auffällig wirken würde) wäre irrelevant. Das BAG orientiert sich allein an der gesetzlichen Entgeltfortzahlung – und in dem vorgenannten Beispiel sind 30 Fehltage (= sechs Wochen) eben gerade noch von Gesetzes wegen „normal“. Denn 30 Fehltage liegen exakt auf der Grenze – und das wäre noch ok.
Überflüssig zu erwähnen, dass die Arbeitgeberin in dem Prozess versucht hat, das Überschreiten dieses Schwellenwertes darzulegen. Den Urteilsgründen zufolge hat sie sogar richtig darum gekämpft. Genützt hat es nichts. So hat sie zwar diverse finanzielle Leistungen in diesem Dreijahreszeitraum angeführt; das BAG hat diese aber in der Summe nicht als ausreichend angesehen. Das lag an Folgendem:
Alles, was infolge freiwilliger vertraglicher Vereinbarungen zu leisten war und somit auch bei Arbeitsfähigkeit, hätte gezahlt werden müssen, sei nicht berücksichtigungsfähig (z.B. Zuschüsse zum Krankengeld, Sonderzahlungen, Pensionsrückstellungen). Anerkannt wurde vom BAG nur, was der Arbeitgeber von Gesetzes wegen zahlen musste (Entgeltfortzahlung). Und bei dieser Position blieb er unterhalb der Schwelle: In 2015 und 2016 wurde kein Cent Entgeltfortzahlung geleistet, in 2017 für 71 von 114 Krankentage in Höhe von 11.434,00 EUR – und bis zum 18.07.2018 wieder nichts.
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Fazit zur Kündigung wegen Krankheit in diesem Fall:
Wenn in dem dreijährigen Referenzzeitraum keine auffällig hohe Entgeltfortzahlung (mehr als sechs Wochen/Jahr) geleistet worden ist – und das in jedem Jahr in diesem Zeitraum! -, hat der Arbeitgeber keine Chance, die soziale Rechtfertigung der ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung zu begründen. „Spielverderber“ sind dann lang andauernde Krankheitsphasen zwischendurch – und natürlich monokausale Erkrankungen, wo einmal Entgeltfortzahlung geleistet wird – und dann nicht mehr. Der Arbeitgeber wird in diesen Fällen mit hoher Wahrscheinlichkeit an der zweiten Prüfungsstufe scheitern, wie das besprochene BAG-Urteil vom 22.07.2021 zeigt. Wechselt der Krankheitsgrund in diesem Zeitraum öfter, steigen entsprechend mit der Erhöhung der Entgeltfortzahlung die Chancen des Arbeitgebers wieder, diese zweite Stufe zu überwinden. Aber auch dann ist ihm der Sieg nicht sicher, denn die dritte Stufe (siehe oben Info-Box 1) in dem Prüfungsschema zur sozialen Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung müsste er auch noch überwinden.
Sie haben Fragen zur Kündigung wegen Krankheit oder der ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung?